Interview mit einer Südkoreanerin zum Thema Nordkorea
Seit dem Ende des Koreakriegs (1950 – 1953) besteht zwischen Südkorea und Nordkorea ein Waffenstillstandsabkommen – beide Länder sind nun seit mittlerweile mehr als 65 Jahren entlang des 38. Breitengrades durch die demilitarisierte Zone (DMZ) geteilt. Seitdem haben sich Südkorea und Nordkorea sehr unterschiedlich entwickelt: Auf der einen Seite der kommunistische Norden, der von der Kim-Dynastie regiert wird und in dem in weiten Teil Armut herrscht. Auf der anderen Seite hingegen steht das kapitalistisch-geprägte, moderne und dynamische Südkorea, welches in den vergangenen 30 Jahren ein unglaubliches Wirtschaftswachstum hingelegt hat und ein enger Verbündetet der Vereinigten Staaten und Europas ist. Heute gibt es immer weniger Koreaner, die noch in einem vereinten Korea gelebt haben. Was also denken junge Südkoreaner über Nordkorea und was halten sie von der Idee einer Wiedervereinigung zwischen Nordkorea und Südkorea?
Diese und noch mehr Fragen zum Koreakonflikt haben wir der südkoreanischen Co-Autorin des Koreablogs S. gestellt.
Zunächst zum Alltag in Südkorea: Spielt die Situation mit Nordkorea eine Rolle im Alltag der Menschen in Südkorea? Fühltest du dich in Südkorea beispielsweise durch Nordkorea bedroht oder hast du mit Familie oder Freunden über das Thema gesprochen?
S: Der Nordkorea-Konflikt spielt – anders als viele Nicht-Koreaner denken würden – im täglichen Leben in Südkorea keine große Rolle. Hier in Deutschland wird mir diese Frage sehr oft gestellt – ich denke, dass dies auch mit der Sichtweise der deutschen Medien auf das Nordkorea-Thema zusammenhängt.
Der Koreakrieg ist nun schon beinahe 70 Jahre her – seitdem ist Korea geteilt und der Koreakonflikt zwischen dem Süden und dem Norden konnte bisher nicht gelöst werden. In den 1970er Jahren bestand eine wesentlich größere Sorge vor einer erneuten Eskalation des Koreakonflikts, da die Erinnerungen an den Koreakrieg noch sehr nah waren. Daher wird die Zeit heute von den Menschen in Südkorea als die friedlichste Phase überhaupt seit Beginn des Koreakonfliktes wahrgenommen. Natürlich gab es auch in den vergangenen Jahren kritische Situationen, z.B. als Nordkorea eine Insel im Süden attackierte oder die Atom- und Raketentests unternommen hat. Im Vergleich zu der Generation meiner Eltern hat sich die Wahrscheinlichkeit eines neuen Koreakrieges oder einer akuten Bedrohung durch den Norden allerdings erheblich reduziert – so ist zumindest meine Sicht der Dinge.
Aufgrund dessen reagieren die Südkoreaner auch mit Gelassenheit auf Drohungen von Nordkorea, z.B. durch Diktator Kim Jong Un. Die Beziehung zwischen Südkorea und Nordkorea waren in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer schlecht. Insgesamt haben sich schwierige und enspanntere Perioden abgewechselt – die Atmosphäre zwischen den beiden Ländern war auch immer stark davon abhängig, welche Partei gerade in Südkorea in der Regierung war (Demokraten oder Konservative). Daher werden die Äußerungen aus Nordkorea nicht immer als Kriegsdrohung interpretiert, sondern mehr als generelles politisches Signal.
Hast du in deinem Alltag in Südkorea jemals wahrgenommen, dass sich das Land offiziell noch im Krieg mit Nordkorea befindet? Musstet ihr z.B. Übungen durchführen, um zu lernen, wie ihr euch im Fall eines Angriffs durch den Norden zu verhalten habt? (z.B. Alarme oder Verstecke im Untergrund)
S: Es gibt in der Tat einmal im Jahr eine Art „Probealarm“, welcher die Bevölkerung auf einen Angriff durch Nordkorea vorbereiten soll. An diesem Tag ertönen in Seoul Sirenen und die Leute sollen sich so verhalten, wie als wäre es ein Notfall. Beispielsweise müssen die Autos auf den Straßen anhalten und die Schüler müssen sich in der Schule an einem sicheren Ort verstecken. Darüber hinaus gibt es aber keine weiteren Übungen oder Vorbereitungen, um das Verhalten im Notfall zu üben.
Wie sehen die Menschen in Südkorea generell Nordkoreaner? Werden Nordkoreaner als eine Art „Feind“ wahrgenommen oder herrscht doch eher die Einstellung vor, dass ihr am Ende des Tages alle Koreaner seid und euch aufgrund der gemeinsamen Wurzeln und Geschichte verbunden fühlt?
S: Wir unterscheiden zwischen dem nordkoreanischen Diktator und Nordkorea. Zunächst ist Nordkorea aufgrund unserer Gesetze und der Ausbildung, die wir im Militär erfahren, als Feind anzusehen. Darüber hinaus hat das nordkoreanische Regime in der Vergangenheit öfters südkoreanisches Territorium angegriffen, wodurch Südkoreaner gestorben sind. In diesem Sinne sind der nordkoreanische Diktator und das nordkoreanische Militär für uns offensichtliche Feinde.
Es muss allerdings zwischen der nordkoreanischen Regierung und der Bevölkerung in Nordkorea unterschieden werden. Südkoreaner fühlen zum Norden eine tiefe Verbindung. Kriegerische Aktionen oder Drohungen des nordkoreanischen Regimes gegenüber Südkorea oder den USA haben für uns nichts mit der Meinung der Nordkoreaner selbst zu tun. Der Süden und der Norden sind nun bald 70 Jahre getrennt – viel länger in der Geschichte war Korea aber ein gemeinsames Land! Das geteilte Korea existiert vergleichsweise erst seit einer sehr kurzen Zeit. Manchmal denke ich mir daher, dass es einfach nur Glück war, dass ich in Südkorea geboren wurde und nicht im Norden. Auch ich hätte in Nordkorea geboren werden können und in der Situation sein können, in der sich die nordkoreanische Bevölkerung heute vorfindet – schließlich wurde das Land nahezu willkürlich geteilt. Das Schicksal der Menschen hat sich entschieden, in welchem Teil Koreas man sich zum Zeitpunkt der Teilung befunden hat.
Insgesamt würde ich sagen, dass die Südkoreaner gemischte Gefühle gegenüber Nordkorea haben. In Südkorea müssen alle Männer für zwei Jahre einen ungeliebten und sehr harten Wehrdienst ableisten – der Hauptgrund dafür ist der Koreakonflikt, was Nordkorea also nicht gerade beliebter macht. Wenn man aber gleichzeitig sieht, wie berührend es für die Südkoreaner ist, wenn es z.B. bei Olympischen Spielen gemeinsame koreanische Mannschaften gibt, kann man fühlen, dass auch die Südkoreaner ein vereintes Korea vermissen.
Wurde das Thema Nordkorea eigentlich während deiner Zeit als Kind und Jugendliche in der Schule behandelt? Oder gab es z.B. in der Schulzeit deiner Eltern eine Art Propaganda gegen den Norden in den Schulen?
S: Als ich ein Teenager war, ist Nordkorea, soweit ich mich erinnere, nie ein Thema gewesen. Es gab wenig Interesse und wenig Unterricht über Nordkorea in der Schule in Südkorea.
Während der Schulzeit der Generation meiner Eltern war dies noch anders – zu dieser Zeit wurde noch viel öfters an koreanischen Schulen das Bild des Feindes Nordkorea vermittel. Das erinnert mich an eine Erzählung meines Vaters. In den 1970er Jahren war es eine Propaganda-Strategie des Nordens, Flugzettel nach Südkorea zu schicken, auf welchen propagiert wurde, wie überlegen der Norden ist. Daraufhin wurde an südkoreanischen Schulen ein Programm initiiert, welches Schulkinder belohnte, die solche Flugzettel fanden und zur Schule brachten.
Wenn Nordkorea in den Medien behandelt wird, geht es meistens um den Atomkonflikt zwischen Nordkorea und den USA. Auch die Politiker sprechen in Bezug auf Nordkorea häufig nur über das Nuklearprogramm und die Raketentests. Gleichzeitig haben Millionen von Nordkoreanern nicht genug zum Essen und die Menschenrechte sind stark eingeschränkt. Sind sich die Südkoreaner der schlechten Menschenrechtssituation im Norden bewusst und in wie weit besorgt sie diese? Hast du jemals mit deiner Familie oder mit Freunden über die Menschenrechtssituation in Nordkorea gesprochen?
S: Die Situation der Menschen in Nordkorea ist den Südkoreanern bewusst, auch da in Südkorea nordkoreanische Flüchtlinge leben, welche von ihrem Leben aus dem Norden erzählen. Viele dieser Nordkoreaner sind oft in den Medien und erzählen ihre Geschichte. Die Regierung und einige NGOs unterstützen die Menschen in Nordkorea. Viele dieser NGOs sind in China angesiedelt, da in China aufgrund der geographischen Lage tausende nordkoreanische Flüchtlinge leben und diese es dort ohne offizielle Papiere sehr schwer haben. Dies ist allerdings kein Thema, welches Südkoreaner in ihrem Privatleben oft besprechen.
In den vergangenen Jahrzehnten ist es tausenden von Nordkoreanern gelungen, aus dem Norden zu flüchten und nach Südkorea zu gelangen. Dort erhalten sie nach Anerkennung ihres Status eine südkoreanische Staatsbürgerschaft. Wie denken die Menschen in Südkorea über nordkoreanischen Flüchtlinge? Denkst du, dass die südkoreanische Gesellschaft es unterstützen würde, mehr Nordkoreaner zu ermuntern, Richtung Südkorea zu fliehen?
S: Eigentlich weiß ich nicht viel über die persönliche Situation von Nordkoreanern in Südkorea. Soweit es mir bekannt ist, erhalten die Flüchtlinge eine gewisse staatliche Unterstützung und rein rechtlich werden sie nicht diskriminiert. Im Alltag sieht dies aber anders aus – ich habe schon oft gehört, dass Nordkoreaner erhebliche Schwierigkeiten haben, sich in Südkorea zu integrieren. Da Nordkoreaner einen starken Dialekt sprechen, lässt sich der Hintergrund nur schwer verbergen. Daher haben sie oft Schwierigkeiten, einen Job zu finden und ein normales Leben zu führen. Es ist auch nicht so, dass Südkorea Nordkoreaner dazu ermutigt, aus dem Norden zu fliehen – ehrlicherweise muss ich sagen, dass es dafür in der südkoreanischen Bevölkerung wahrscheinlich auch nur wenig Sympathien geben würde. Wenn die Menschen es schaffen, aus Nordkorea zu fliehen, werden sie in Südkorea willkommen geheißen – „ermutigen“ ist aber zu viel gesagt.
Was denkst du über die Politik von Donald Trump in Bezug auf Nordkorea? Kommen die Gipfeltreffen mit Nordkorea in Singapur und in Hanoi zu früh oder sind diese zum jetzigen Zeitpunkt bereits konstruktiv? Ist die von Donald Trump imitierte Nordkorea-Politik für dich ein Schritt in die richtige Richtung oder würdest du sagen, dass Barack Obamas Politik der strategischen Geduld der richtige Weg war?
S: Ich weiß nicht, was die Gipfeltreffen am Ende hervorbringen werden. Bis jetzt sieht es so aus, also ob diese Treffen für beide Seiten einen politischen Nutzen haben. Insgesamt ist bei den Treffen bisher noch nicht viel Essentielles herausgekommen.
In den westlichen Medien wird Nordkorea oft belächelt oder es werden Witze über Nordkorea und dessen Diktator (z.B. aufgrund des Haarschnittes) gemacht. Von früheren Gesprächen mit dir weiß ich, dass Südkoreaner diese Art von „Humor“ nicht mögen. Woher kommt diese Einstellung?
S: Ich bin mir nicht sicher, wie andere Südkoreaner über solche Scherze denken, aber ich vermute, dass auch andere Südkoreaner sie nicht so lustig finden wie Nicht-Koreaner. In Südkorea gibt es derartigen Witz nicht. In Deutschland haben mir Freunde öfters Memes (Gifs mit Untertitelungen) gezeigt, aber ich kann damit nichts anfangen, da auch ich als Südkoreanerin mich nicht ganz von Nordkorea lösen kann. Es tut mir leid, dass Nordkorea aufgrund eines solchen Humors häufig nicht ernst genommen zu werden scheint. Ich hoffe, dass die Leute und die Medien Nordkorea zukünftiger ernster nehmen und Nordkorea mit den eigenen Problemen fertig wird.
Nicht alle Südkoreaner befürworten eine zukünftige koreanische Wiedervereinigung oder auch nur eine Lockerung der Sanktionen gegenüber Nordkorea. Was sind die Gründe für die Sichtweise? Gibt es hier Unterschiede zwischen der jungen und der alten Generation der Südkoreaner?
S: Die Bedenken vieler Südkoreaner hinsichtlich einer koreanischen Wiedervereinigung haben ganz praktische Hintergründe. Wie soll beispielsweise die heruntergekommene Infrastruktur im Norden finanziert und erneuert werden? Bedeutet das höhere Steuern für die südkoreanische Bevölkerung? Auch machen sich viele Leute in Südkorea Sorgen um die Stabilität in der Gesellschaft und mögliche chaotische Zustände. Viele Südkoreaner halten eine koreanische Wiedervereinigung für etwas positives, diese soll aber nicht während ihrer Zeit geschehen. In dieser Frage gibt es meiner Meinung nach in der Sichtweise zwischen der alten und der jungen Generation keine Unterschiede.
Du bist Südkoreanerin und lebst in Deutschland – denkst du, dass Korea etwas von der deutschen Wiedervereinigung lernen kann?
S: Die deutsche Wiedervereinigung ist natürlich als historisches Beispiel bekannt, von dem Korea lernen kann. Meiner Meinung nach ist die Situation in Korea aber eine etwas andere. Im Moment kann ich aus der deutschen Wiedervereinigung kann Lösungsansätze für den Koreakonflikt oder eine mögliche koreanische Wiedervereinigung ableiten.
Für wie wahrscheinlich hältst du eine koreanische Wiedervereinigung in den nächsten 20 Jahren? Denkst du, dass Südkorea im Moment auf eine Koreanische Wiedervereinigung vorbereitet wäre (z.B. Wirtschaftlich, Finanziell, Bildung, Wohnraum…)
S: Ich gehe nicht davon aus, dass es in diesem Zeitraum zu einer Wiedervereinigung zwischen Südkorea und Nordkorea kommen wird. Die koreanische Grenze spiegelt die Grenze zwischen dem „neuen“ Block China und den USA wider. In diesem Konflikt gibt es sehr viele Interessen und Akteure. Aus meiner Sicht ist es besser, wenn keine dieser Kräfte auf der koreanischen Halbinsel interveniert und es somit zu keinem neuen Koreakrieg kommt, der viele Leben kosten würde.
Wie gut Südkorea im Moment auf eine mögliche koreanisch – koreanische Wiedervereinigung vorbereitet wäre? Wahrscheinlich nicht sehr gut, eine Wiedervereinigung wird derzeit auch nicht aktiv vorbereitet.
Zum Ende die Frage: Denkst du, dass sich Korea noch während deiner Lebenszeit wiedervereinigen wird?
Ich denke, die Chancen für eine Wiedervereinigung von Südkorea und Nordkorea stehen 50:50.
Das Interview wurde mit der südkoreanischen Co-Autorin des Korea Blogs chingufreunde S geführt. Wenn ihr mehr über Nordkorea und das Leben dort erfahren möchtet, empfehlen wir euch „The Girls with Seven Names“ von Hyeonseo Lee. Hyeonseo ist eine Nordkoreanerin, die nach Südkorea geflüchtet ist und in dem Buch ihre Geschichte erzählt: ihre Kindheit und Jugend in Nordkorea, die Flucht und das Leben in China sowie ihren Plan, ihre Familie aus Nordkorea nach Südkorea zu bringen. In unserem Korea-Blog findet ihr eine Rezension des Buchs.
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